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Tipps zur Vorbereitung zeitgenössischer Flötenmusik

von Helen Bledsoe
übersetzung von Tanja Schurkus

Teil I: Die Sprache der Komponisten - Aspekte des Ausdrucks

  1. Notwendigkeiten bei der Vorbereitung und einige Denkanstöße
  2. Hinweise zur Entwicklung ausdrucksstarker Lösungen
  3. Die Klänge der Stille
Teil II: Die eigene Stimme - die Ausarbeitung technischer Aspekte zur Unterstützung des Ausdrucks
  1. A. Wie man seine Spielbreite entwickelt: Allgemeine Probleme angehen::
    1. Musik von besonderer Komplexität
      1. komplexe Rhythmen
      2. hohe Notgendichte und Betonungszeichen
      3. Mikrotonalität
      4. Die vierte Oktave
    2. Erweiterte Techniken: Nutzen und Anwendungen
    3. Ausdauerprobleme
  2. Entwurf eines Programms zeitgenössischer Musik
    1. Ideen zur Auswahl eines Repertoires
    2. Praxistipps
  3. Abschließende Worte zur Ermutigung

Teil I :Die Sprache der Komponisten - Aspekte des ausdrucks

1.A. Notwendigkeiten bei der Vorbereitung und einige Denkanstöße

Die Vertrautheit mit dem Stil und der Ästhetik eines Komponisten/ einer Komponistin ist grundlegend bei der Einübung von Musik einer jeder Epoche. Wie kann man sich diese Grundlagen aneignen, wenn man es mit der Musik von Komponisten zu tun hat, mit denen man nicht vertraut ist?

Die ersten Schritte dieses Unterfangens sollten einen dahin führen, mehr über die anderen Arbeiten des betreffenden Komponisten herauszufinden und sich damit vertraut zu machen und – vielleicht der interessantere Teil – in Erfahrung zu bringen, welche Musik oder Klänge den Komponisten oder die Komponistin inspiriert haben. Zuhören, zuhören, zuhören! Dadurch erhält man wertvolle Einsichten. Hier einige Vorschläge im einzelnen:

Luciano Berio, Sequenza no. 1: Hören Sie sich die Sequenza no. 3 für Gesangsstimme an (auch wenn die Gesangs-Sequenza der für Flöte nachdatiert ist). Hören Sie sich eine Aufnahme von Cathy Berberian an, für die das Stück geschrieben wurde (aufgenommen auf Wergo-Label), oder Luisa Castellani (Deutsche Gramophon). Wenn man die Möglichkeit hat, Frau Castellani live mit diesem Stück zu hören, sollte man es nicht versäumen. Sie liefert eine verblüffende Darbietung aus dem Gedächtnis.

Edgar Varèse, Density 21.5: Hören Sie sich die Holzbläser-Soli in den Ensemble Passagen an aus Intégrales, Hyperprism und Octandre.

Toru Takemitsu, Voice oder Itinérant: Hören Sie sich einige traditionelle Shakuhachi Stücke an, obwohl Takemitsu erst spät in seiner Karriere mit traditionellen japanischen Elementen und für japanische Instrumente komponierte. In November Steps, ein Concerto für Solo-Biwa und Shakuhachi kann man hören, wie er diese traditionellen Instrumente mit moderner Orchestration verbindet. Er war auch Komponist für Filmmusik. Wenn man sich die Filme ansieht, für die er Musik geschrieben hat, bekommt man einen Eindruck von seinen Ideen zu Timing und Bewegung.

Kazuo Fukushima, Mei, Shun-San, Requiem: Natürlich kann man traditionelle Shakuhachi Musik hören, aber es ist auch interessant, die Bedeutung der Flötenstimme in einigen orientalischen Traditionslinien zu kennen. Eine dieser Bedeutungen, die zu kennen hilfreich ist (oder bei der es einen kalt überläuft), besagt, dass die Flöte einen Klang hat, der die lebende Welt mit der der Toten verbindet.

Salvatore Sciarrino, Opera per flauto vol. 1 & 2 : Jedes Stück dieses zweiteiligen Werks besteht in seinem eigenen Klanguniversum, indem es einen besonderen Satz erweiterter Effekte ausschöpft. Für mich war es nützlich zu hören, wie er einige der selben Effekte für andere Instrumente übersetzt wie in seinem Klarinetten-Solo Let me die before I wake. Seine Ensemblestücke Esplorazione del Bianco und Introduzione all'oscuro sind gute Beispiele dafür, wie er eine besondere Atmosphäre erschafft, indem er ausgewählte Effekte setzt.. 1

Die Inspirationsquellen von Komponisten kann man sich auch erschließen, indem man über ihr Leben liest oder ihre eigenen Schriften studiert. Schriftliche Zeugnisse und Biographien bekannter Komponisten können leicht in Bibliotheken oder durch das Internet gefunden werden. Außerdem kann man:

Informationen über weniger bekannte Komponisten sind oft dürftig oder Aufnahmen ihrer Werke sind nicht erhältlich. In diesem Fall: Nicht verzweifeln, rumfragen! Einfach die eigenen Quellen anzapfen, Wissen aus verschiedenen Ecken zusammentragen und das Wissen von Freunden und Kollegen. Fragen Sie andere Komponisten um Rat. Wenn sie zugänglich sind, kann man ihnen anbieten vorzuspielen. Es hat mir mitunter geholfen, für jemanden zu spielen, der/die ein feines Gehör für Form hat.

1.B. Hinweise zur Entwicklung ausdrucksstarker Lösungen

Die Beschäftigung mit Werken, die außerhalb der traditionellen Virtuosität liegen, kann dabei helfen, sich auf die Herausbildung von Ausdruck und auf die dramatische Wirkung zu konzentrieren. Extrem minimalistische Musik oder graphisch notierte Musik z.B. ist hergeleitet aus den Ideen technischer Zauberei; daher muss man sich auf die Aspekte von Timing, Körperbewegung, Atemtechnik und Konzentration besinnen. Die Schwierigkeit ist, einen Weg zu finden, um Intensität zu vermitteln und das Interesse wach zu halten während eines Werks, das nichts anderes sein mag, als eine Reihe bizarrer Geräusche. Einige Beispiele für diese Art von Musik sind bestimmte Werke von John Cage (Solos aus Song Books, die Flötenstimme aus Concert for Piano, das als Solo gespielt werden kann oder in Verbindung mit anderen Werken von Cage), Earle Brown (December 1958) oder Cornelius Cardew (Treatise). Ausdrucksstarke Umsetzungen dieser Quellen zu finden, ist eine gute Übung, um die eigene musikalische Vorstellungskraft zu erweitern. Eine Reise in dieses seltsame Land der Extreme kann einem großartige Perspektiven bei der Rückkehr eröffnen.

Um den stilistischen und dramatischen Ausdruck eines Komponisten/ einer Komponistin einzufangen, greife ich oft auf einen Praxistipp zurück, den ich von Robert Dick erhalten habe: Man spielt eine Passage aus dem Stück, an dem man arbeitet, dann legt man die Komposition beiseite und improvisiert eine Passage im selben Stil, dabei verwendet man die gleiche Notenbreite, dieselbe dynamische Modulation, Länge der Phrasen etc. Wenn man diesen kreativen Prozess einmal durchlaufen hat, kehrt man zu dem Notenblatt zurück. Ich finde dann immer etwas Neues in der Betrachtung – vielleicht eine neue Modulation, eine veränderte Bewegung in der Koloratur oder vielleicht eine neue Wahrnehmung rhythmischer Klarheit.

Wenn man nach ausdrucksstarken Umsetzungen sucht, kann die Welt der visuellen Kunst manchmal interessante Einsichten vermitteln.
Besuch von Museen mir geholfen hat, Ausdrucksprobleme zu lösen: Während ich an der Berio-Sequenza aus dem Gedächtnis arbeitete, begann ich mich zu fragen, was tut sich eigentlich im Geist, während man spielt? Einige Künstler haben ein fotografisches Gedächtnis und sind in der Lage, sich die Partitur bildlich vorzustellen während der Darbietung. Da mir diese Fähigkeit fehlt, brauchte ich etwas, auf das ich mich konzentrieren konnte, damit mein Gesichtsfeld nicht durch das Publikum abgelenkt wurde. (Mit geschlossenen Augen zu spielen, ist nicht empfehlenswert, wenn man zu kommunizieren versucht).

Ich sehe dies unbedingt als Problem des Ausdrucks: Vom Aspekt der Bühnen-Choreografie gesehen ist das Spielen von Solos eine Herausforderung für Flötisten. Pianisten sitzen im Profil, Violinisten sind auch leicht angewinkelt, sodass die F-Löcher dem Publikum zugewandt sind. Sogar Klarinettisten können vorgeben, auf ihre Finger herabzusehen. Und anders als Sänger haben wir keine Freiheit der Mimik, noch können wir uns hinter einer Maske des Ausdrucks verstecken (die untere Hälfte unseres Gesichts ist anderweitig beschäftigt). Wir können außerdem keine Worte benutzen, um den Ausdruck zu transportieren. Da wir dem Publikum direkt zugewandt sind, brauchen wir einen besonderen Mut und eine starke Konzentrationsfähigkeit. Natürlich kann man seinen Augenmerk auf das „Ausgang“-Schild am Ende der Halle richten, aber dennoch: Was machen wir mit unserem Geist? Ich möchte nicht ständig an das „Ausgang“-Schild denken!

Kindern rät man, sich „eine Geschichte auszudenken“ als Hilfe bei einer Aufführung. Das allerdings ist kaum angemessen für ein Werk wie die Sequenza und kann sich als ablenkender erweisen als das Publikum. Was schließlich half, war, dass ich abstrakten Bildern erlaubte sich zu formen, inspiriert und ausgelöst durch die Klänge, die ich in der Darbietung hervorbrachte. Das ermöglichte es mir, mich auf die tatsächlichen Laute zu konzentrieren, die ich spielte, und mich nicht ablenken zu lassen von irgendwelchen vorgefassten, repräsentativen, künstlich erzeugten Bildern oder Gedanken.

Diese Bilder, die ich formte, waren inspiriert durch meine Besuche im Stedelijk und Van Gogh Museum in Amsterdam. Ich war in der Lage, mir ein Koloratur-Schema und eine Entwicklung vorzustellen, die mir durch die Eröffnung von Franco Donatonis Midi halfen, das ansonsten wie Salat oder endlose Nudeln daherkommen mag.

Beim Yoga nennt man die Fokussierung der Augen Drishti. Manchmal ist sie gerade vor einen gerichtet, manchmal auf die Nasenspitze, machmal auf den Unterbauch (für Flötisten nicht zu empfehlen!). Man sollte alles versuchen, um zu einem eigenen Drishti zu finden – und den Blick entspannt ausrichten, das hilft zur nötigen Konzentration..

1.C. Die Klänge der Stille

Wenn ein Komponist oder eine Komponistin Stille in ein Solo-Werk integriert, kann es nicht einfach als neutrales Medium beseite geworfen werden, das Noten oder Phrasen ausparen soll. Man sollte sich fragen, ist die Stille angehaltene Bewegung, oder ist sie ein Aufschub von Handlung? Die Art der Stille zu bestimmen, die man erschaffen will, ist wesentlich.

Das ist der Grund, warum ich über Stille in so farbenfrohen, bezeichnenden Begriffen denke wie:

Die Möglichkeiten sind zahlreich.

Eine andere interessante Auslegung der Stille ist, sie als Gelegenheit wahrzunehmen, nun selbst dem Publikum zuzuhören. Ich habe neulich darüber gelesen und kann mich nicht erinnern, wem ich diese Idee verdanke!

Die Art der Stille, die man erzeugt, wird nicht nur durch die eigenen Bewegungen bestimmt oder dadurch wie ruhig man ist, sondern wie man atmet während der Stille. Es ist interessant zu sehen, wie Heinz Hollinger in seinem Flötenstück (t´aire) Stille komponiert mit besonderen Längen und schriftlichen Anweisungen wie „den Atem so lange wie möglich anhalten“, „langsam einatmen“ und „nicht wahrnehmbar einatmen.“

Diese Art der Choreografie spielt eine wichtige Rolle in der Interpretation und nicht nur in den Phasen der Stille! Erlauben Sie mir ein Negativ-Beispiel: Peter Lloyd erzählt gerne von einem Studenten, der die Berio-Sequenza wundervoll spielte. Aber die beständig lässigen, wiegenden Bewegungen des Studenten irritierten ihn, besonders, da solche Bewegungen nur momenthaft (wenn überhaupt) in der Sequenza angemessen sind. Das ist eine wichtige Lehre: Während man damit beschäftigt ist, dem Publikum eine gut durchdachte Interpretation zu geben, sollte man darauf achten, dass der Körper einen nicht verrät, indem er eine gegenteilige Geschichte erzählt.


Teil II: Die eigene Stimme – die Ausarbeitung technischer Aspekte zur Unterstützung des Ausdrucks

II.A. Wie man seine Spielbreite entwickelt: Allgemeine Probleme angehen

Wenn man die ersten Schritte unternommen hat, um Informationen zu sammeln, sieht man sich nun der tatsächlichen Partitur und ihrer technischen Herausforderungen gegenüber. Ich möchte mich jetzt mit drei Themenpunkten befassen, die die wesentlichen Fragen aufwerfen und die Notwendigkeit einer praktischen Lösung:
  1. Musik von besonderer Komplexität
  2. Der Gebrauch erweiterter Techniken
  3. Probleme der Ausdauer

II.A.1. Musik von besonderer Komplexität.

Man mag sich fragen „Warum?“ – der Musikwissenschaftler Richard Toop notiert: Eine Besonderheit unserer Kultur ist es, im Gegensatz zu anderen Kulturen mit einer hoch entwickelten musikalischen Tradition, dass Komponisten, in dem Moment, in dem sie herausfinden, wie man etwas macht, etwas anderes machen wollen; oder, ein Grundsatz, der der Musik westlicher Prägung unterliegt ist, dass „wenn X gegeben ist, nimmt man die Möglichkeit von X plus 1 an.“ Was immer die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist, für uns läuft es auf ein „Ne Menge Noten“ hinaus.

Eine Menge Noten, viel Tinte. Man könnte vermuten, Jackson Pollock hat einigen Einfluss auf diese Leute, aber sehen wir uns das genauer an. Wenn man sich einmal erholt hat von dem unvermeidlichen Schwindelgefühl, kann man die Schwierigkeitsbereiche aufsplitten, z.B. in:

  1. komplexe Rhythmen
  2. hohe Notendichte und Hervorhebungen
  3. Mikrotonalität
  4. Die vierte Oktave
II.A.1.a. komplexe Rhythmen: Eine Passage mit Polyrhythmen gegen einen Grundpuls (3 gegen 4, 5 gegen 7 etc.) kann man mit einer dreistufigen Methode einüben:
  1. Man internalisiert den Rhythmus ohne das Instrument.
  2. Man internalisiert den Rhythmus mit Instrument und verwendet dabei vereinfachtes Material.
  3. Man spielt den Rhythmus wie er geschrieben steht.
1. Man internalisiert den Rhythmus ohne Instrument: Setzen Sie das Metronom auf ein neutrales Tempo (sagen wir eine Viertel Note zu 60) und klatschen Sie mit den Händen gegen den Takt; wenn man also 3 gegen 4 setzt, klatscht man 3 gegen die 4 des Metronoms.

Wenn man mathematisch herausfinden will, wann man klatschen sollte im Verhältnis zum Takt, tue ich folgendes: Sie haben z.B. Polyrhythmus „a:b“. wobei „a“ die Taktzahl ist und sie klatschen gegen „b“, was die Taktzahl des Metronoms ist. Teilen Sie die „b“-Zahl des Takts gemäß der Einheiten von „a“, dann klatschen Sie jedes „b“ dieser Einheit.

Sehen wir uns ein Beispiel an: drei gegen vier, oder 3:4. Teilen Sie 4 („b“) gemäß der Einheiten von 3 („a“). Sie haben nun 4 Takte aus Triolen.

Graphisch kann man die Metronom-Schläge darstellen als „/“ und die Untereinheiten als „.“ So sollte es dann aussehen:

/ . . / . . / . . / . .

Nun klatschen Sie jede 4 („b“) dieser Einheiten (Triolen in diesem Fall). Graphisch, wenn man das Klatschen mit „+“ darstellt, spielt man folgendes:

+ . . / + . / . + / . .

Steve Vais hervorragende Website hat einen leicht anderen Ansatz und geht mehr ins Detail mit schriftlichen Beispielen. Er hat auch eine gute Erklärung für metrische Modulation.

2. Nun internalisiert man den Rhythmus weiter durch das Spielen einzelner, sich wiederholender Noten oder in einem kurzen Tonleitermuster in Polyrhythmen. Z.B., wenn man 4:5 hat, kann man Taffanel-Gaubert EJ. 1 oder 2 nehmen, und diese 4 Notenmuster gegen 5 Taktschläge spielen.

3. Nun spielt man den Polyrhythmus wie er geschrieben steht.

Wenn die Polyrhythmen nicht organisch wahrgenommen werden können (das heißt, im Bezug auf den Puls), wie kann man sich dem als Darbieter/in annähern? Hier kann eine mathematische Analyse als Hilfe zur Interpretation verwendet werden.

So lange einem ein Anfangstempo gegeben ist, ist es möglich, die Länge jedes Taktes zu berechnen, einer jeden Passage oder jeder einzelnen Note. Wenn also der Rhythmus nicht gefühlt werden kann, kann man zumindest das Tempo auswendig lernen, in welchem es sich abspielen soll. Überraschenderweise ist es manchmal viel langsamer als man denkt! Wenn Takte gesehen werden sollen als „Domäne eines bestimmten Energie-Quotienten“ (wie in vielen Werken von Brian Ferneyhough) oder als „Bereiche der Aktivität“, sollte man daran denken, dass es wichtig ist, den Grad der Aktivität zu kennen, der repräsentiert werden soll.

Ferneyhoughs Superscriptio für solo Piccolo-Flöte ist ein gutes Beispiel. Das Basistempo ist eine Achtelnote zu 56. Das bedeutet, eine ganze Note in 4/4 entspricht 7, weil 8 Achtelnoten in einem 4/4 Takt sind, und 8 geht in 56 7mal auf.

Von dieser Nummer 7 kann man alle „gewöhnlichen“ Zeit-Signaturen ableiten, die nicht auf einer Unterteilung der Achtelnote beruhen. Ein Achtelnoten Quintole (oder ein 1/10 Takt) entspricht 70, weil es 10 Quintolen in einem 4/4 Takt gibt (7x10=70). Wenn man einen 3/10 Takt hat, muss man, um herauszufinden, wie lange dieser Takt ist, 70 durch 3 teilen. Wenn man einen 5/10 Takt hat, teilt man 70 durch 5, um die Länge festzustellen.
Ein Achtelnoten Triplet (oder ein 1/12 Takt) entspricht 84, weil 12 Triplets in einem 4/4 Takt sind. Wenn man einen 3/12 Takt hat, teilt man 84 durch 3, um die Länge dieses Takts festzustellen, und um die Länge eines 5/12 Takts zu finden, teilt man 84 durch 5.

Neben dem Erstellen einer „click track“, gibt es noch eine andere Herangehensweise, die ich nutze, um mich mit diesen Rhythmen vertraut zu machen: Man kann die Geschwindigkeit aller Gesten auswendig lernen. Zum Beispiel kann man alle Takte nehmen, die auf „1/12“ basieren bei einer Geschwindigkeit von 84 und sie üben. Auf diese Art springt man von Takt zu Takt oder von Seite zu Seite, während man das Metronom bei 84 hält. Dann wiederholt man das selbe für alle 1/10 Takte, dann mit den 1/8 usw. Dabei versucht man keine musikalische Kontinuität zu erreichen, das ist nur eine Übung, die dabei hilft, die Takte mit dem Tempo zu verbinden und sie durchgängig zu halten. Wenn man schließlich die Stücke zusammensetzt, hat der „innere Dirigent“ hoffentlich ein kinematisches Gedächtnis für den Puls und für jeden Takt und ändert das Tempo jeweils entsprechend..

II.A.1.b. Hohe Notendichte und Betonungszeichen

Bei Musik von besonderer Komplexität begegnet man nicht nur der Komplexität von Rhythmus und Tonalität, sondern auch der allgemeinen Dichte der Betonungszeichen, und der Geschwindigkeit, in der diese Gesten ausgeführt werden sollen. Das gilt insbesondere für das Werk von Ferneyhough, also werden wir ihn weiterhin als Beispiel nehmen.

Er und andere Komponisten dieser Schule haben eine interessante künstlerische Situation geschaffen: Jeder, der ein komplexes Werk aufführt und mit Unmöglichkeiten konfrontiert ist, wird seine oder ihre individuelle Lösung herausarbeiten und damit eine Interpretation schaffen, die nur einzigartig sein kann. Das ist ein Weg, die Musik lebendig zu halten. Ferneyhough erklärt erhellend: „Es ist wirklich sehr schwer für mich, die Form der nervösen Intensität zu vermitteln, mit welcher ich persönlich die formalen ausdrucksstarken Widersprüche wahrnehme, die involviert sind ... Es GIBT keine Synthese: Die Widersprüche bleiben unversöhnt, weil keine einzelne Darbietung es erreichen kann, sie alle sinnvoll zu artikulieren. Daher überdauert das Stück, um noch einmal gespielt zu werden. ...“ again...2

In vielen Werken von besonderer Komplexität ist daher die Spannung, die durch die glücklosen Versuche der Interpreten am Unmöglichen hervorgerufen wird, selbst ein Element des Ausdrucks. Ferneyhough schreibt in seinen Anmerkungen zu Cassandra´s Dream Song: „Der hörbare (und sichtbare) Grad der Bemühungen, soll als integrales strukturelles Element in die Ausarbeitung der Komposition selbst eingebracht werden.“

II.A.1.c. Mikrotonalität
(der Gebrauch von Intervallen kleiner als einen halben Schritt – wie z.B. Vierteltöne, Sechsteltöne, Achteltöne etc.)

Es gibt mehrere Standardformen, in denen Mikrotöne verwendet werden (die untereinander verbunden sein können):

Nachdem die interpretativen Fragen einmal geklärt sind, kommt der Zeitpunkt, wo tatsächlich gespielt wird. Es gibt verschiedene Grifftabellen, wie die von Matts Möller: http://www.sforzando.se/flutech/06.htm. Es gibt gute Quellen, die man als Ausgangspunkt berücksichtigen sollte. Mein persönlicher Rat ist, dass man möglichst viele Griffe für eine bestimmte Note kennen sollte. Man sollte flexibel sein in der Wahl der Griffe, weil es viele Faktoren zu beachten gibt bei der Auswahl:

Obwohl jeder Punkt für sich genommen wichtig ist, ist es wesentlich, das End-Tempo zu kennen und es immer im Bewusstsein zu haben. Ich habe den Fehler begangen, sorgfältig durch eine Partitur zu gehen und alle „richtigen“ Griffe für die Mikrotöne zu notieren, nur um sie später wieder zu ändern, als ich das Stück in sein Tempo einsetzte. Man sollte die Noten im Tempo üben, wenn auch nur zwei oder drei zu einer Zeit, um ein Gefühl dafür zu bekommen.

Manchmal ist die Lösung einfacher als man glaubt. Das Drehen der Flöte nach innen oder außen, um eine Note „auf-zustimmen“ kann ebenso gut funktionieren wie komplizierte Griffe. Zum Beispiel: Auf einer Standard-Flöte gibt es keinen stabilen Griff für F# hoch – wenn man einen lauten, stabilen Ton braucht, spielt man einfach F# und hebt die Lippe. Wenn man einen ruhigen, klaren Ton braucht, greift man G und senkt die Lippe.

Eine Anmerkung zu den verschiedenen Flötenmodellen: Ich spiele auf einer Viertel-Ton Kingma System (gefertigt von Osten-Brannen) – das ist wirklich ein großartiges System und ich kann es jedem empfehlen, der viel zeitgenössische Musil spielt. Diese Flöten eignen sich auch für jedes andere Repertoire. Wie auch immer – jede Flöte hat die Kapazität, mikrotonal zu spielen (wie wir alle wissen – manchmal unbeabsichtigt!) Man sollte sich keineswegs davon abschrecken lassen, modernes Repertoire zu spielen, wenn man eine Standard Flöte hat, selbst wenn es ein Schüler-Modell mit geschlossenen Klappen ist. Es gibt immer noch Repertoires, die auf einem Schüler-Modell gespielt werden können, wie z.B. die Flöten-Solos von Karlheinz Stockhausen. Hierzu kann man einen Blick in meine Repertoire-Liste werfen. (http://www.helenbledsoe.com/erep.html)

II.A.1.d. Die 4. Oktave

Übt behutsam, aber übt!

Einige Tipps:

Manchmal sind Komponisten nett und ermöglichen eine natürliche Dynamik der 4.Oktave (fff). Manchmal sind sie es nicht. An dieser Stelle kann man es mit Visualisieren versuchen; das bedeutet, man erweckt den Eindruck eines echten Piano auch wenn der Klang recht gegenwärtig ist. In manchen Fällen ist die Anstrengung, leise zu spielen, Teil der Ästhetik der Komponisten, oder manchmal wünscht der Komponist einfach eine Reduzierung der Energie und erlaubt ein „relatives“ Piano. Man sollte immer fragen, wenn möglich – man sollte sich selbst nicht daran abarbeiten, Perfektion zu erreichen, wenn die Komponisten es nicht von vorne herein beabsichtigt haben. Wenn Komponisten ein echtes Piano haben wollen in dieser Oktave, sollte man sein Bestes versuchen, den Luftstrom zu halten und nichts erzwingen, es einfach fließen lassen und eine gewisse Leichtigkeit im Klang ermöglichen; es mag sich immer noch nahezu laut anhören, aber es macht weniger aus.

II.A.2. Erweiterte Techniken: Nutzen und Anwendungen

Wenn es darum geht, Meisterschaft in diesen Techniken zu erlangen, dann ist „das Buch“ – oder besser: sind die Bücher – bereits geschrieben. Robert Dicks Neuer Klang durch neue Technik. Zirkularatmung für Flötisten und Flying Lessons Bde. I & II (mit Demo-Kassetten oder DVD) demonstrieren diese Techniken verständlich und sind angefüllt mit praktischen Hinweisen. advice.3

Ohne ausschließlich das zu reproduzieren, was bereits über dieses Thema geschrieben wurde, biete ich hier eine Liste der praktischen Vorzüge des Studiums von erweiterten Techniken, zusammen mit ihrer praktischen Anwendung und Tipps für das Spiel.

Noch eine besondere Anmerkung zum Spielen von Mehrklängen und Pfeiftönen/Whistletönen in einem Ensemble-Stück: Diese Effekte sind oft nicht sehr sorgsam komponiert. In manchen Fällen ist es nicht nur unmöglich die Flötenspieler zu hören, sondern es ist auch unmöglich für die Flötisten, sich selbst gut genug zu hören, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Komponisten müssen sich dessen bewusst sein. Wenn man kein akustisches Feedback hat, wissen die Muskeln für den Ansatz und die des Kiefers nicht, was sie tun sollen: Es ist wie im Dunkeln tappen.

Wenn man einen stabilen Mehrklang in einem Ensemble-Stück teffen soll, ist es oft ratsam, auf die höchste Note zu zielen und sie nicht schwanken zu lassen, andernfalls klingt es wie ein Misston (z.B. die Mehrklänge in Xenakis Jalons.) Natürlich sollte man den Klang so reich machen wie möglich, indem man so viel der tiefen Töne einbringt wie nur möglich.

An diesem Punkt möchte ich noch einmal den Fokus des musikalischen Ansatzes bei den erweiterten Techniken betonen. Das half mir, den Übergang von der Herumprobieren-im-Übungszimmer Phase zum tatsächlichen sicheren Auftritt vor Publikum zu vollziehen. Ein konkreter musikalischer Ansatz ist besonders von Nöten, da in manchen Kreisen diese Effekte nichts Besonderes mehr haben oder ungewöhnlich sind; sie mögen sogar klischeehaft klingen.

Saxophon-Spieler Jack Wright, der aus der Perspektive eines freien Improvisators schreibt, fasst es in einem Interview mit John Berndt in treffende Worte:

In den ersten Jahrzehnten der freien Improvisation, als die neuen Techniken das Kennzeichen eines neues Zugangs zu den traditionellen Instrumenten waren, wurden sie oft als der neue Standard angesehen, den es zu spielen galt. Aber zur Zeit finde ich häufiger Musiker, die sich mehr an einer integrierten Technik orientieren, wo nichts „erweitert“ ist, weil keine Technik aus sich selbst heraus auch zugleich eine radikale Abkehr mitbezeichnet. [...] Jetzt scheint jede Technik zweitrangig zu sein gegenüber der Musikrichtung, und Pyrotechnik flammt nicht als besonderes Kennzeichen der Könnerschaft auf. Natürlich wird es immer welche im Publikum geben, die beeindruckt sein werden von Zirkularatmung, diese Art von „Schau mal Mama, der holt ja gar nicht Luft!“-Reaktion, aber wenn wir uns treu bleiben wollen, dann wissen wir, dass wir nicht da sind, um Leute zu beeindrucken, sondern eher dazu, unsere musikalischen Herzen zu öffnen. Und was mich betrifft, so ruft dieses Öffnen nach der größten Bandbreite von Klang, die das Vorstellungsvermögen aus Körper und Instrument herauszuholen vermag.
Ich denke, das ist auch ein guter Ansatz für komponierte Musik. Wenn man eine Technik austüftelt für ein gegebenes Stück, sollte man sich fragen (oder noch besser: Den Komponisten oder die Komponistin, wenn möglich), welche Rolle spielt es? Wurde es geschrieben, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen? Spielt das eine Rolle in der Form des Stücks?

Oft werden Pfeiftöne verwendet, um unstete, stratosphärische/ atmosphärische Geräusche zu erzeugen, oder Singen und Spielen können dazu verwendet werden, um eine verzerrte Intensität zu erzeugen. Salvatore Sciarrinos Opera per Flauto Teil 1 und 2 sind ein wundervolles Beispiel für den ausdrucksstarken Gebrauch außergewöhnlicher Klänge: jedes Stück hat seine eigene Klangwelt, die erzeugt wird durch eine Palette von Effekten. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass die Bewegung und das Ineinanderwirken von einer Technik mit einer anderen eine formale Bedeutung erlangt. (bes. Teil 1, Nr. 7 Fra i testi dedicati alle nubi).

Was der Komponist beabsichtigte, muss man selbst herausfinden und dabei das eigene Vorstellungsvermögen einsetzen.

II.A.3. Ausdauer

Die Schulung von Ausdauer und die gleichzeitige Vermeidung von Schädigungen ist einer der Jonglierakte unserer Zeit. Und ich betone, dass Ausdauer während der Übungszeit genauso wichtig ist, wenn nicht sogar wichtiger, als die Frage, ob man es durch ein Konzert schafft. Meine beiden Ratschläge sind miteinander verknüpft und haben langfristige Erfolge zum Ziel:
  1. Man muss seine Grundlagen sorgfältig aufbauen
  2. Man muss seine kurzfristigen Grenzen kennen
Mit dem Aufbau von Grundlagen meine ich nicht „geh zurück und übe deine Tonleitern“, sondern, dass man jede Übung und jede Konzertvorbereitung als eine Fortführung oder besser: als eine Vertiefung der eigenen Grundlagen sehen sollte.

Wenn man an Passagen von extremer Dichte arbeitet, muss man sie nicht notwendigerweise von vorne herein intensiv praktizeren (z.B. Zeile A von Ferneyhoughs Cassandra´s Dream Song). Man arbeitet das, was schwer ist, in einer eigenen, angenehmen Dynamik aus. An diesem Punkt löst man Probleme – und legt den Grundstein für künftige Darbietungen, nicht nur für die, die unmittelbar vor einem liegt. Ständig mit der maximalen Intensität üben, wird einen schnell erschöpfen – die Intensität kann man hinzufügen, wenn man den Rhythmus, die Griffe, die Artikulation usw. ausgearbeitet hat.

Ganz allgemein finde ich, dass Studenten, die das Interesse haben, ein Repertoire von extremer Komplexität anzugehen, besonders verständig und motiviert sind – sie anzuspornen ist nicht das Problem, eher das Gegenteil: Besonders verständige Menschen sind manchmal sehr verständnislos, wenn es um körperliche Aktivität geht.

Ich glaube daran, dass man seinen Träumen folgen sollte - the sky is the limit, zum Teufel mit Beschränkungen! Aber man sollte sich bewusst machen, dass der Weg lang und verschlungen sein kann. Man erreicht es nicht an einem Tag, in einer Woche oder bis zum nächsten Konzert, zum nächsten Vorspielen. Und der Pfad kann gepflastert sein mit Rückschlägen, wenn man nicht achtsam ist mit seinem täglichen Dasein und dem körperlichen Wohlbefinden. Man sollte wissen, wann der für diesen Tag genug hat. Man sollte wissen, wann man aufhören sollte und eine Pause machen sollte, bevor man frustriert ist mit einer bestimmten Passage. Man ist dann fähig länger zu üben/ zu spielen als wenn man immer an das Ende der Fahnenstange klettert. Wenn man verkrampft ist, steif oder Schmerzen hat, dann sollte man sich eine Minute nehmen, um sich zu dehnen; nur eine Minute kann manchmal den Unterschied bewirken zwischen einer Beeinträchtigung, die für Jahre anhält und einer fortgesetzten gesunden Praxis (und schließlich braucht man alle diese Jahre, um alle diese Noten zu lernen!). Das meine ich, wenn ich davon spreche, dass man seine kurzfristigen Grenzen kennen sollte.

Man muss lernen, Geduld zu üben. Man mag am Vortag an einer Passage gearbeitet haben und sie festgenagelt haben, nur um sie heute ohne jeden Erfolg anzugehen. Nichts herausprügeln – es ist da und wird zurückkommen. Einfach die Aufmerksamkeit auf eine andere Passage richten. Geduld erlernen bedeutet auf lange Sicht, Ausdauer zu erlernen.

Einige Tage bevor ich für ein Solo-Programm vorgesehen bin, nehme ich mir Zeit, durch mein gesamtes Programm zu gehen (es ist kein Publikum beim ersten Durchgang zugelassen, es wird für spätere „Versuche“ eingeladen). Am Ende habe ich für gewöhnlich schwer zu kämpfen und kann kaum glauben, dass es um meine Ausdauer so schlecht bestellt ist. Ich sage mir: „Wenn ich mich so fühle in einer Situation mit wenig Anspannung, wie um alles in der Welt soll ich es durchs Konzert schaffen?“ Es ist lustig, aber immer wenn mir das passiert, habe ich dieses Empfinden nie während des tatsächlichen Auftritts. Vielleicht liegt es daran, dass ich durch den Prozess eines gesamten Durchgangs gegangen bin und weiß, was ich zu erwarten habe. Aber tatsächlich scheint mir, dass das Publikum den ganzen Unterschied macht. Adrenalin, positive Energie, Applaus – das alles trägt einen und hilft dabei, die Ausdauer zu erhöhen. Wenn man es also ohne Publikum durch das ganze Programm schafft, wie leicht muss es dann erst mit Publikum sein!

II.B. Entwurf eines Programms zeitgenössischer Musik

1. Ideen zur Auswahl eines Repertoires

Es ist möglich, ein interessantes, stilistisch vielfältiges und originelles Programm für Solo-Flöte zu entwerfen ausschließlich mit Musik, die in den letzten 60 Jahren komponiert wurde – insbesondere, wenn man die Arbeiten für die verschiedenen Flöten berücksichtigt (Piccolo, Alto oder Bass), Kammermusik oder Elektronik.

Wenige Organisatoren sind an einem Programm für Solo-Flöte als solcher interessiert. Dennoch mögen sie interessiert sein am einzelnen Künstler/ der einzelnen Künstlerin und den jeweiligen Programmideen. Wenn man das Interesse hat, auf einem bestimmten Festival zu spielen oder ein Konzert in einer bestimmten Stadt zu geben, recherchiert man über die örtlichen Komponisten und schaut, ob eines ihrer Werke das eigene Interesse anfacht. Man klärt, ob es ein Thema für das Festival gibt. Man erkundigt sich über die ortsansässigen Komponisten. Diese Fakten bringt man dann zusammen mit Ideen aus dem eigenen Repertoire oder recherchierten Repertoirelisten wie diesen:

Man kann auch in Betracht ziehen, einen Komponisten zu bitten, ein neues Stück für einen zu schreiben. Man sollte jede Chance wahrnehmen, an einem neuen Stück mitzuarbeiten – es ist eine großartige Lernerfahrung. Man sollte sich selbst und dem Komponisten aber Zeit geben. Im Vorhinein sollte man sicher stellen, dass man klare Deadlines gesetzt hat; das hilft unangenehme Berufserfahrungen zu vermeiden. Ich habe einmal einen Abgabetermin mit einem Komponisten vereinbart, der einen Monat vor dem Konzert lag. Davon ausgehend, dass das Stück nicht so schwer war, als dass ich es nicht in zwei Wochen einstudieren könnte, erhielt ich das Stück zwei Wochen zu spät. Das war einerseits ein wenig frech, andererseits hätte ich deutlich machen sollen, dass ich zwei Wochen vor dem Konzert auf Tour war und keine Zeit hatte, ein neues Stück einzustudieren, ob es nun leicht war oder nicht. Ich habe das Stück aus dem Programm genommen.

2. Praxistipps.

Wenn ich an einem Gesamtprogramm zeitgenössischer Musik arbeite, stelle ich eine Liste der einzelnen Schwierigkeiten auf, die jedes Stück bietet (Beispiel: Luciano Berio Sequenza – rascher Doppelzunge, Franco Donatoni Midi – Triller, Paulo Perezzani L´Ombra dell´Angelo – hohe Obertöne, Brian Ferneyhough Carceri d´invenzione – Passagen in der vierten Oktave). Das gibt mir eine Liste von Schwierigkeiten, die ich jeden Tag angehe und aus denen ich meine täglichen Übungen entwerfe. Das ist besonders wichtig, denn wenn man an Musik von hoher Intensität arbeitet, ist es nicht immer möglich oder ratsam, jeden Tag durch das ganze Programm zu spielen. Daher würde ich einen Aufgabenplan entwerfen, von welchen Stücken (für gewöhnlich nicht mehr als zwei) jeden Tag im Detail geübt werden soll. Auf diese Weise kann man seine ganze Aufmerksamkeit dem Stück widmen, das für diesen Tag angesetzt ist und die tägliche Übungsliste stellt sicher, dass man Fortschritte macht in den Schwierigkeitsbereichen, die in den anderen Stücken vorkommen. Das entlastet von dem schlechten Gewissen, das man empfinden mag, wenn man Zeit damit verbringt, detailliert an einem Stück zu arbeiten auf Kosten eines anderen an einem bestimmten Tag.

Um eine maximale Effizienz zu erreichen, sollte man Übungen machen, die so viele Techniken vereinen wie möglich. Robert Dick nennt dies „Pyramiden Übung“. Die Idee dahinter ist, an zumindest zwei Sachen zur selben Zeit zu arbeiten, so etwas wie das Singen und Spielen von Tonleitern; oder singen während man in einem höheren Register spielt (das ist gut zum Eintrainieren von Pianissimo). Klevere Kombiationen helfen, die Übungszeit und das Aufwärmen möglichst gut zu nutzen. Zum Beispiel habe ich eine Übung, die Triller,Obertöne und Zirkularatmung vereint und die sich gut für ein generelles Warmspielen eignet. Man beginnt mit dem H-1 und spielt einen Halbtontriller zu C. Man spielt die Oberton-Reihe herauf und herunter. Dabei steigt man immer in halben Schritten hinab und benutzt Halbton-Triller. Wenn ich heruntergespielt habe zu C#-D, fange ich noch einmal bei D an und steige chromatisch, verwende dabei aber Ganz-Ton-Triller diesmal (wobei ich weiterhin die gesamte Obertone-Reihe bei jedem Triller herauf- und herunterspiele).

Wenn man sich in ein Repertoire von solcher Extremität einübt, empfehle ich nachhaltig ein gutes Aufwärmen. Das widerspricht einigen gängigen Ideen, insbesondere denen, dass man die Fähigkeit besitzen soll, ohne Umschweife spielen zu können, ohne irgendwelchen ritualistischen Mumpitz. Wenn ein Flötist oder eine Flötistin in guter Form ist, kann er oder sie von einem „Kaltstart“ aus spielen ohne Probleme. An mir selbst ist mir aber insbesondere aufgefallen, dass ich, wenn ich daraus eine Angewohnheit mache, nach wenigen Tagen in einer weniger guten Form bin und dass mir einige der feineren Nuancen meines Spiels verloren gehen. Wenn man an einem Stück mit Passagen in der 4.Oktave arbeitet oder an einem Piccolo-Stück, dass die 3.Oktave verwendet – man wäre ein Trottel, wenn man sich keine Zeit zur Vorbereitung nehmen würde. Kein Athlet würde einen hohen Sprung versuchen, ohne sich vorher aufgewärmt zu haben, oder nicht? (Frage ich in aller Naivität, da ich es selbst nie versucht habe.) Man sollte immer daran denken, dass eine Minute oder zwei der Vorbereitung dabei helfen können, Beeinträchtigungen zu verhindern, die Monate oder Jahre anhalten.

Was man zum Aufwärmen spielt, bleibt einem selbst überlassen – bei mir ändert sich das, je nachdem, woran ich gerade arbeite. Zu dem Zeitpunkt da ich das schreibe, umfasst es die Triller-Übung, die oben erwähnt wird, Obertöne mit Artikulation, 4-6 langsame Tonleitern von Taffenel-Gaubert e.j. Nr. 4 – mit verschiedenen Artikulationen, um meine Hand–Zungenkoordination aufzuwecken (und in verschiedenen Polyrhythmen), Arpeggios, und einen Satz von Bach oder Telemann. Die Angewohnheit, diese Werke in meine tägliche Routine einzuarbeiten, geht zurück auf die zehn Tage, die ich mit Aurèle Nicolet 1992 zusammengearbeitet habe – In jeder Unterrichtsstunde ermahnte er mich: „Du musst Barockmusik spielen jeden Tag – du must BACH spielen jeden Tag!“ Pablo Casals hatte den selben Rat: Bach jeden Tag „um das Haus zu segnen“. Einige Jahre lang habe ich diesen Rat ignoriert, aber seitdem ich es ausprobiert habe, bin ich überzeugt, dass es Gutes bewirkt. (Obwohl ich keine Angaben über die Segnungen meines Haus machen kann, auch nicht über die meines Geistes!)

II.C. Abschließende Worte zur Ermutigung:

Wenn man zeitgenössische Werke der Musik vorbereitet, ist es schwierig den Schritt vom Übungsraum auf die Bühne zu machen. Ganz gleich vor welchem Publikum, es gibt immer irgendwelche nagenden (störende) Sorgen: „Sie werden denken, das ist schräg“, „Sie werden denken, ich kann nicht ordentlich spielen“; „Ich will mich nicht zum Narren machen“; „Ich weiß, dass so-und-so im Publikum sitzt und er/sie hasst moderne Musik.“

Man sollte diese Herausforderung akzeptieren, um das Publikum davon zu überzeugen, dass das, was man da spielt, es wert ist, zuzuhören. Wenn man auf sein Publikum die Disziplin überträgt, in der man sich selbst geübt hat, wird die eigene Einstellung es ihnen ermöglichen, einen zu respektieren. Wenn man seinem Publikum mit Mut und Würde gegenüber tritt, ganz gleich, welche ungewöhnlichen Sachen man zu Gehör bringt, kann man nur Erfolg haben. Sich seinen Humor auch über sich selbst zu bewahren, ist ein anderer wichtiger Faktor. Man sollte die Menschlichkeit besitzen zu lächeln, wenn man die Bühne betritt – nicht nur zu den anderen, sondern auch zu sich selbst.

Fine

Übersetzung - Tanja Schurkus
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Fußnoten:
1 Besondere Einsichten brachten mir seine „konventionellen“ Stücke, in denen er keinerlei besonderen Effekte benutzt und sich ganz und gar auf traditionelle Harmonien verlässt und auf den Einsatz klassischer Anlehnungen wie in seinem Orchesterwerk Cadenza. Ich weiß nicht, inwiefern diese Kenntnis meiner eigenen Darbietung nutzt, aber es ist einer der Fälle, wo man durch die Beschäftigung mit anderen Stücken eines Komponisten einige persönliche Mutmaßungen beiseite schieben kann. zurück

2 Aus einem E-Mail-Brief an die Autorin, die Interpretation von Carceri d´Invenzione Ilb. betreffend zurück

3 veröffentlicht bei MMB Musik in den USA, Just Flutes in Europa. zurück